00:00:00: Guten Tag, auch heute habe ich Ihnen eine Episode aus meinem Buch "Gottlose Type"
00:00:07: mitgebracht. Sie ist überschrieben mit "Geschichte im Bundestag".
00:00:20: Der Deutsche Bundestag steckt voller Geschichte und Kunst.
00:00:25: Wer sich alles erschließen möchte, bräuchte dafür Wochen. Also führe ich
00:00:32: meine Besucherinnen und Besucher zu ausgewählten Werken.
00:00:35: Das "Archiv der Abgeordneten" gehört dazu - ein französischer Beitrag. Dort wird mit
00:00:43: stilisierten Postkisten an alle Parlamentarier erinnert, alphabetisch und
00:00:50: nach Perioden geordnet, die von 1919 bis 1999 durch freie, gleiche und geheime
00:01:00: Wahlen Volksvertreter wurden. 1919 markiert den beginn der Weimarer
00:01:07: Republik. 1999 den Umzug des Bundestages von Bonn nach Berlin.
00:01:16: Ergo kommt auch mein Name dort vor, denn ich wurde erstmals 1998 in den
00:01:24: Bundestag gewählt. Historisch spannend wird es, sobald man sich anschaut wer
00:01:31: alles für welche Partei dabei war und bei wem dazu ein schwarzer Streifen
00:01:37: mahnt: "Ermordet durch die Nazis". Übrigens quer durch alle damaligen Parteien, nicht
00:01:46: nur der KPD und der SPD, sondern alle mit Ausnahme der NSDAP. Ein Fach erinnert
00:01:56: übrigens an Adolf Hitler, der 1933 ebenfalls frei und geheim
00:02:03: gewählt wurde. Gelegentlich wurde es von erbosten
00:02:07: Besuchern eingetreten. Ich halte beides für wichtig:
00:02:11: Dass der Nazi und Massenmörder Hitler nicht verschwiegen wird und dass dies
00:02:17: Widerspruch hervorruft. Es war Rolf Schwanitz, ein SPD Genosse aus
00:02:24: dem Vogtland, der das Archiv der Abgeordneten dennoch scharf kritisierte.
00:02:29: Zu recht, denn es umfasst mitnichten alle frei, gleich und geheim gewählten
00:02:37: Parlamentarier in Deutschland. Die Mitglieder der am 18. März 1990 gewählten
00:02:45: letzten Volkskammer der DDR fehlen komplett.
00:02:49: Der Osten findet nicht statt. Er wird ausgeblendet, so als hätte es ihn
00:02:55: nie gegeben. Nicht einmal im Aufbau. Das zweite Kunstwerk im Bundestag, das ich
00:03:03: bei Führungen nie auslasse, ist der Andachtsraum von Günther Uecker aus
00:03:08: Nordrhein-Westfalen. Es war ebenso umstritten.
00:03:13: So sehr, dass der Künstler damit drohte sein Werk zurückzuziehen.
00:03:18: In seinem Andachtsraum können alle Gläubigen gleichberechtigt Einkehr und
00:03:25: Zuspruch suchen - Christen, Muslime, Juden, auch Hindus. Die CDU/CSU wehrte sich
00:03:34: lange dagegen. Sie begehrte an der Stirnwand ein
00:03:37: dominierendes christliches Kreuz im Sinne einer deutschen Leitkultur.
00:03:43: Doch Günther Uecker mahnt etwas anderes an. Einen interreligiösen Dialog auf Augenhöhe.
00:03:52: Wer sich dem Reichstagsgebäude von Westen her nähert, stößt auf die große
00:03:58: Giebelschrift "Dem deutschen Volke". Der Architekt Paul Wallot hatte es bereits
00:04:07: 1894 so vorgesehen. Doch Kaiser Wilhelm II. pfiff ihn
00:04:13: damals zurück. Das Parlament habe ihm zu dienen und niemandem anderen. Nun gibt es
00:04:21: im nördlichen Innenhof des Reichstagsgebäudes
00:04:24: ein weiteres Kunstwerk. Seine grün überwucherte Botschaft lautet: "Der
00:04:31: Bevölkerung". Sie mahnt, der Bundestag sei kein deutsch-nationales
00:04:36: Parlament, sondern allen hier lebenden Bürgerinnen und Bürgern
00:04:42: verpflichtet - kurzum einer multikulturellen Gesellschaft. Bleibt die
00:04:49: Frage, wie die vom Kaiser verschmähte Inschrift "Dem deutschen Volke" dennoch an
00:04:56: den Giebel kam. Das geschah 1916 inmitten des ersten Weltkrieges. Kaiser Wilhelm II.
00:05:05: sorgte sich ob der schwindenden Todeslust seines Volkes
00:05:10: und so widmete er ihnen gnädig eine ungeliebte Inschrift an einem ihm
00:05:17: sonst verhassten Ort. Soweit meine heutige Episode aus der "Gottlosen Type".